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Innatura-Geschäftsführerin Dr. Juliane Kronen im Gespräch mit Christoph Mecking, Stiftung&Sponsoring. Abschrift des Artikels in Stiftung&Sponsoring 4/2015

S&S: Frau Kronen, wenn in unserer „Wegwerfgesellschaft“ von Verschwendung die Rede ist, geht es meist um Lebensmittel…

Kronen: Das stimmt und es ist auch wichtig und richtig, dass diese Verschwendung zunehmend thematisiert und erfreulicherweise auch angegangen wird. Leider wird bei
der Diskussion meist vergessen, dass auch Gebrauchsgüter wie Hygiene- und Reinigungsmittel, Werkzeug oder Windeln – fabrikneu und absolut unversehrt – aus den unterschiedlichsten Gründen nicht mehr in den Handel gelangen und letztlich vernichtet werden. Das tut weh, vor allem wenn man bedenkt, wie viele bedürftige Menschen diese Produkte dringend benötigen, sie sich aber nicht oder nur unter großen persönlichen Einschränkungen leisten können.

S&S: Sie haben schon häufig berichtet, wie ein Anruf Sie dazu bewegt hat, dieses Problem anzugehen. Weil es so schön ist: Erzählen Sie uns bitte nochmal davon.

Kronen: Damals rief mich ein ehemaliger Kollege aus der Unternehmensberatung an, der wusste, dass ich über ein großes Netzwerk verfüge, beruflich und aufgrund verschiedener
Ehrenämter. Seine Frage: „Kennst du jemanden, der 200.000 Flaschen Shampoo sofort gebrauchen kann – neu, originalverpackt, unentgeltlich, allerdings nicht zum Weiterverkauf?“
Die Shampoos waren falsch etikettiert und sollten in Kürze vernichtet werden, da die Kapazitäten zur Lagerung dringend benötigt wurden. Ich telefonierte mir die Finger wund, konnte aber leider auf die Schnelle keinen Abnehmer finden, so dass die Waren schließlich doch in die Vernichtung gegangen sind.

Diese Begebenheit war ein Schlüsselerlebnis für mich, führte es mir doch ganz plastisch die dunkle Seite unserer Konsumgesellschaft vor Augen und weckte die Neugierde, wie groß denn eigentlich dieses Thema ist – und vor allem, wie ein Lösungsbeitrag aussehen könnte. Bei einem Kölsch am selben Abend habe ich das Thema dann mit zwei Kollegen und späteren Mitgründern diskutiert. Wir starteten eine Recherche, an deren Ende die unfassbare Summe von 7 Mrd. € stand. Das ist der konservativ ermittelte Wert von Konsumgütern, die in Deutschland jedes Jahr vernichtet werden. Rund ein Drittel dieser Produkte ist sowohl fabrikneu als auch qualitativ hochwertig und gehört zudem zu den Warengruppen, die vom gemeinnützigen Sektor dauerhaft und dringend benötigt werden, wie Babybedarf, Körperpflegeprodukte, Büromaterialien und Spielzeug. Wie vorteilhaft es für Mensch und Natur ist, wenn bereits vorhandene Waren vor der Vernichtung bewahrt und einem guten Zweck zugeführt werden, liegt auf der Hand: Eine klassische Win-win-Situation. Damit war die Idee von innatura geboren.

S&S: Sie waren damals Partnerin in einer großen Unternehmensberatungsgesellschaft,
aber auch ehrenamtlich in verschiedenen Organisationen aktiv. Was hat Sie zum beruflichen
Wechsel in die Welt der Gemeinnützigen bewogen und dazu, hier neue Wege zu beschreiten?

Kronen: Im Rahmen der internen Recherche konnten wir nicht nur das Problem beziffern, sondern fanden In Kind Direct, eine Charity in Großbritannien, 1995 von Prinz Charles selbst gegründet, als funktionierendes Vorbild für eine Lösung. Problem da, Lösungsansatz da. Musste „nur noch“ umgesetzt werden. Klar war, dass sich die Lösung nicht ehrenamtlich neben meiner internationalen Tätigkeit realisieren ließ. Und so habe ich tief Luft geholt und mich entschieden, alle meine Erfahrungen – auch im elterlichen Logistikbetrieb – hauptberuflich in ein gemeinnütziges Startup einzubringen und zu handeln.

S&S: Sie haben also die gemeinnützige Gesellschaft innatura gegründet. Wie sieht das „Geschäftsmodell“ aus?

Kronen: innatura bietet die Schnittstelle zwischen Unternehmen, die im Sinne von Gesellschaft und Umwelt überschüssige Waren spenden möchten, anstatt sie zu vernichten
und gemeinnützigen Organisationen, die diese Produkte dringend benötigen. Über eigene Lagermöglichkeiten können große Mengen schnell abgenommen und dann bedarfsgerecht
an soziale Einrichtungen verteilt werden. Händler und Hersteller bewahren so ihre Waren mit nur geringem Aufwand vor der Vernichtung und tun zugleich Gutes. Auch müssen sie nicht fürchten, dass die Waren auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden, da innatura die gesamte Qualitätssicherung übernimmt. Nonprofits – übrigens auch Stiftungen – wiederum erhalten über unsere Plattform häufig erstmalig Zugang zu hochwertigen und neuen Sachspenden, die sie für ihre Arbeit und zum Wohle ihrer Zielgruppen verwenden können. Indem sie nur eine geringe Vermittlungsgebühr, zwischen 5 und 20 % des Marktpreises, zahlen, sparen sie enorme Gelder ein. innatura erhebt die Gebühr, um damit die eigenen Kosten für Lager, Logistik und Personal zu decken und so von Geldspenden unabhängig zu sein. Zudem haben die Vermittlungsgebühren eine wichtige Allokationswirkung und sorgen dafür, dass die Spenden genau dort hinkommen, wo sie am meisten gebraucht werden.

Mit unserem Modell leisten wir auf der einen Seite Wertvolles für unsere Umwelt und auf der anderen Seite tragen wir signifikant dazu bei, dass Nonprofits ihre Budgets entlasten und so ihre Arbeit absichern oder sogar ausweiten können.

S&S: Wie finden anbietende Unternehmen und nachfragende gemeinnützige Organisationen den Weg zu Ihnen und wie organisieren Sie den Transfer?

Kronen: Die meisten Spenderunternehmen sprechen wir aktiv an, um in einem Kernsortiment möglichst lieferfähig zu bleiben. Dazu nutzen wir auch unser internationales Netzwerk. Seit 2013 besteht, ebenfalls unter der Präsidentschaft des britischen Thronfolgers, das Partnernetzwerk In Kind Direct International, in dem innatura als erstes Mitglied akkreditiert
wurde. Aber es melden sich auch aktiv Unternehmen, die in der Presse über uns gelesen haben, worüber wir uns besonders freuen. Im persönlichen Kontakt bieten sie uns
konkrete Waren an und benennen den Grund für die anstehende Vernichtung. Dann entscheiden wir, ob die Produkte für unsere Abnehmer interessant sind und in welcher Menge
sie bei uns Platz finden. Schließlich werden die Waren in unserem Lager in Troisdorf bei Köln angeliefert – dies geschieht meist auf Kosten der spendenden Unternehmen, was nicht
selbstverständlich ist und wofür wir sehr dankbar sind.

Für Empfänger ist es einfach: Unter www.innatura.org betreiben wir eine Plattform, auf der sich Organisationen, die in Deutschland als gemeinnützig anerkannt sind, kostenlos und unverbindlich registrieren können. Nachdem sie von uns freigeschaltet wurden, erhält jede dieser Organisationen Zugang zu unserem Katalog, in dem die aktuell verfügbaren Produkte nach Warengruppe aufgeführt sind. Auch die Höhe der Vermittlungsgebühr wird hier transparent dargestellt. Wenn eine Organisation bei uns eine Bestellung aufgibt, erhält sie die gewünschten Waren meist innerhalb von zwei bis drei Werktagen. Für die Lieferung fallen die üblichen Versandkosten an, es besteht aber auch die Möglichkeit, die Produkte nach Absprache persönlich bei uns im Lager abzuholen.

S&S: Wie schätzen Sie das Potenzial dieses „Transfermarktes“ ein?

Kronen: Wir haben geschätzt, dass bislang lediglich Sachspenden im Wert von etwa 50 Mio. € jedes Jahr direkt von Unternehmen an gemeinnützige Organisationen gespendet werden. Dies zeigt im Verhältnis zu den Waren im Wert von ca. 2 Mrd. €, die interessant für den sozialen Sektor sind, aber dennoch entsorgt werden, enorme Wachstumspotenziale. Um diese zu heben, müssen wir noch mehr Unternehmen gewinnen, systematisch ihre  Wertschöpfungskette nach möglichen Spenden zu durchforsten.

S&S: Gab es bei ihnen schon einmal Probleme mit der steuerlichen Anerkennung einer Sachspende oder deren Bewertung?

Kronen: Leider ist die steuerliche Behandlung einer Sachspende eindeutig und unattraktiv: Als Entnahme muss sie wie ein Umsatz bewertet werden, und das spendende Unternehmen hat die entsprechend anfallende Umsatzsteuer abzuführen. Auch mit einer Zuwendungsbestätigung wird dieser Effekt nicht völlig kompensiert. In der Konsequenz ist es in vielen Fällen für Unternehmen tatsächlich teurer, Dinge zu spenden, statt sie zu vernichten. Allerdings gibt es Spielräume bei der Bewertung, wenn Waren beschädigt oder tatsächlich nicht mehr marktfähig sind. Eine einzige Ausnahme gibt es für Lebensmittel, genauer für Backwaren: Der „Bäckererlass“ erlaubt ein Wahlrecht zwischen Abschreibung der Ware oder Bewertung als Umsatz mit entsprechender Spendenquittung.

S&S: Wie sind die Beschäftigungsverhältnisse bei innatura gestaltet? Wie intensiv etwa sind Ehrenamtliche beteiligt?

Kronen: Sie können ein Logistikunternehmen nicht imEhrenamt mit Wochenendeinsatz von Freiwilligen betreiben. Es war von Anfang an klar, dass wir eine professionelle gemeinnützige Organisation gründen wollen. Wir haben also ein kleines Kernteam festangestellter Menschen für die Betreuung unserer Empfängerorganisationen und Spenderunternehmen, Finanzen und Lagertätigkeiten. Zusätzlich sind wir aber auf die Unterstützung von Bundesfreiwilligen, Ehrenamtlichen und auch Mitarbeitern aus Unternehmen angewiesen, die uns sowohl bei der Büroarbeit als auch bei Aktionen im Lager tatkräftig unterstützen. Daneben haben wir eine Honorarkraft für die Redaktion und Pressekontakte.

S&S: Gab es Probleme bei der Einführung des Mindestlohns?

Kronen: Na ja, für uns als Start-up hat das Gesetz direkt die Arbeitskosten erhöht. Während ich früher einen engagierten Menschen geringfügig beschäftigen konnte – ein Teil der Arbeit bezahlt und der Rest sozusagen als ehrenamtliche Tätigkeit gespendet – geht das heute nicht mehr. Die Verknüpfung einer den Möglichkeiten entsprechenden Bezahlung mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit ist schwierig geworden, und wir können leider auch keine Praktikantenplätze mehr anbieten, die nicht Pflichtpraktika sind. Das ist besonders ärgerlich, da viele sehr gut qualifizierte Menschen die gute Idee von innatura im Aufbau unterstützen möchten.

S&S: Ihr Geschäftsmodell basiert auf Vertrauen. Wie verhindern Sie Missbrauch, dass etwa die Verschwendung dann bei den Nonprofits stattfindet oder dass sich Beschäftigte daran bereichern?

Kronen: Gemäß unseren AGBs verpflichten sich die abnehmenden Organisationen mit der Bestellung bei innatura dazu, die bestellten Produkte nur für die eigene Verwaltung oder zum Nutzen der von ihnen betreuten Menschen einzusetzen bzw. kostenlos an diese abzugeben. Zu jeder Zeit müssen unsere Empfänger zudem in der Lage sein, Nutzung und Zielort der erhaltenen Waren nachzuweisen. innatura behält sich die Überprüfung vor – notfalls auch persönlich vor Ort. Allerdings hatten wir bislang noch keinen Grund, einen Missbrauch zu befürchten. Die Organisationen teilen uns in der Regel sehr offen und von sich aus mit, wie die Produkte zum Einsatz kommen – tolles Bildmaterial inklusive.

S&S: Sozialunternehmer machen eigentlich fast immer die Erfahrung, dass ihre sinnvollen Ideen nicht immer leicht umzusetzen sind. Wie ist es Ihnen ergangen?

Kronen: Die Idee fanden alle, bei denen ich vor der Gründung vorsprach, um Anschubfinanzierung zu bekommen, wirklich sinnvoll. Aber die Reaktion war dennoch immer
dieselbe: „Gründen Sie erst mal, und wenn das auch in der Praxis funktioniert, können Sie bei uns einen Antrag auf Förderung stellen.“ Eine Erfahrung, die sicherlich in Großbritannien
oder den USA anders ausgefallen wäre.

Und immer dann, wenn Sie etwas Innovatives tun, greifen existierende Regelungen zu kurz. Wir müssen vielen potenziellen Empfängern die Vorteile, die eigentlich auf der Hand liegen, erklären – entweder, weil sie zu gut klingen, um wahr zu sein, oder weil die Anreizstrukturen, in der Beschaffung Geld einzusparen und diese Mittel für andere Aufgaben freizusetzen, nicht gegeben sind. Für unsere AGBs gab es kein Vorbild – und wie versichern Sie einen Lagerinhalt, wenn Sie die Produkte als Spende zur Verfügung gestellt bekommen haben? Innovation strapaziert eben manchmal auch die Rahmenbedingungen.

S&S: Wo sehen Sie in Deutschland denn generell strukturelle Probleme?

Kronen: Zum einen bedarf es dringend der Änderung der steuerlichen Handhabung. Ich bin überzeugt, dass es vielen Politikern gar nicht bewusst ist, dass sie mit der geltenden Rechtslage Unternehmen, die spenden wollen, statt zu vernichten, bestrafen. Wir fordern, den „Bäckererlass“ analog auch für Non-Food-Spenden anzuwenden, wenn diese ausschließlich in den sozialen Sektor gehen. Übrigens setzt Großbritannien das bereits sehr erfolgreich mit den „Charity Shop Rules“ um. Zum anderen müsste der Gesetzgeber noch mehr Unterstützung für Business-to-Business-Lösungen im gemeinnützigen Sektor leisten.

Außerdem wünsche ich mir, dass der Effektivitätsgrad, mit dem das Budget einer gemeinnützigen Organisation ausgegeben wird, zu einer zentralen Messgröße für die Bewertung der Professionalität gemeinnütziger Organisationen wird.

S&S: Sie sind auch Vorstandsmitglied bei der Right Livelihood Award Stiftung, die den „Alternativen Nobelpreis“ verleiht. Seit 35 Jahren gibt es diese Institution. Wie ist es
dazu gekommen?

Kronen: Ich habe im Rahmen einer Fulbright Alumni-Konferenz vier Preisträger kennengelernt und war beeindruckt davon, mit welcher Konsequenz sie praktische Lösungen für die drängendsten Probleme unserer Welt vorantreiben. Sie wollen aber nicht nur „Gutes tun“, sondern zugleich die Rahmenbedingungen, die zu Missständen führen, ändern. Die
Stiftung unterstützt die Preisträger über die Preisverleihung hinaus und vernetzt sie weltweit untereinander. Ich fand diesen Ansatz effektiv und habe angeboten, im Rahmen meiner Fähigkeiten dazu beizutragen und ein Pro-Bono-Projekt für die Stiftung geleitet.

S&S: Was hat Sie zu dem zusätzlichen Engagement bewogen?

Kronen: Wie schon bei innatura die Überzeugung, dass wir nicht mit Problemen leben müssen, deren Lösung schon bekannt ist und nur noch weiter verbreitet werden muss. Ich finde die Hebelwirkung des Preises einzigartig.

S&S: Und haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, eine Stiftung zu errichten?

Kronen: Ganz ehrlich: Von Anfang an. Am ehesten sicher als Verbrauchsstiftung in diesen Tagen, um innatura nach ihren Möglichkeiten wachsen zu lassen.

S&S: Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview fand am Randes SocialSummit 2015 statt.